Podiumsdiskussion am 23. April 2012 mit Regina Szepansky, Cord Pagenstecher und Lutz Sand

Bericht von Sonja Miltenberger

Regina Szepansky
Regina Szepansky, Sachsenhausen Komitee in Deutschland

Zeitzeugen noch zeitgemäß? – Eine Frage, die vor allem diejenigen beschäftigt, die mit der Vermittlung von historischen Ereignissen befasst sind. Deshalb war es auch besonders erfreulich, dass sich zu dieser Veranstaltung eine ganze Reihe von Lehrerinnen und Lehrern eingefunden haben, die – so glaube ich – nicht enttäuscht wurden.

Das Podium war mit den drei Gästen sehr breitgefächert aufgestellt:

  • Regina Szepansky, die Tochter des 2008 verstorbenen ehemaligen Häftlings des KZ Sachsenhausen Wolfgang Szepansky und stellv. Vorsitzende des Sachsenhausen Komitees in Deutschland, vertrat wohl den direktesten Zugang zu Zeitzeugen – nämlich den der unmittelbaren familiären Erfahrung der nachfolgenden Generation.
  • Der Historiker Dr. Cord Pagenstecher, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität zu Berlin und BGW-Mitglied, war grundlegend an der Erarbeitung des Online-Archivs „Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungen und Geschichte“ beteiligt. Sein Ansatz ist natürlich geprägt von einem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse, dennoch ist für ihn die emotionale Erfahrung mit Zeitzeugen der Ausgangspunkt seiner Arbeit.
  • Der Sozialkundelehrer Lutz Sand hat seit vielen Jahren im Bereich der Gedenkstättenpädagogik die verschiedensten Ansätze der Vermittlung von Geschichte angewandt. Er bringt einen breiten pädagogischen Erfahrungsschatz mit und weiß, was es bedeutet, Jugendlichen die Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung nahe zu bringen.

Die Geschichte der Zeugenschaft des Zweiten Weltkrieges und des NS-Regimes begann unmittelbar nach dem Ende des Krieges. Damals ging es den Überlebenden vor allem darum, ihre Rechte einzuklagen, als Verfolgte des Naziregimes anerkannt zu werden sowie die Lager als Gedenkorte zu erhalten. Ein weiterer, sehr wichtiger Aspekt, war das Zusammenkommen mit Gleichgesinnten.

In einer Zeit, als die Nazi-Ideologie noch fest in den Köpfen verankert war, boten die Verbände einen geschützten Raum, in dem sich ehemalige Verfolgte trafen. Erst in der Nach-68er-Zeit, also Anfang der 1970 Jahre stieg das Interesse an Zeitzeugen vor allem in Schulen. Bevor der Begriff Zeitzeuge als historische Quelle in die geschichtswissenschaftlichen Betrachtungen von Lutz Niethammer Mitte der 1980er Jahre Eingang fand, war der Zeitzeuge vor allen Dingen erst einmal ein Zeuge vor Gericht. Der erste große Kriegsverbrecherprozess, der gegen Eichmann 1962 geführt wurde, hätte ohne die Zeugenaussagen ehemaliger Häftlinge nicht stattfinden können. Auch Harry Riestau, ein Zeitzeuge, der im Publikum saß, erinnert sich an die Anfänge. Er musste die Erfahrung machen, dass der Zeitzeuge mit Opfer gleichgesetzt wurde. Ein wichtiger Aspekt, deutet er doch auf die ideologische bzw. moralische Kategorisierung von Zeitzeugen hin, deren Erfahrungen und Erinnerungen je nach politischem Kalkül bewertet bzw. „abgerufen“ wurden. Auch Wolfgang Szepansky musste die Erfahrung machen, bis in die 1980er Jahre als politischer Häftling verfemt zu sein. Die Zeiten änderten sich und er bekam 1996 das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.

Vielleicht kein Kalkül aber ein Zeichen von Instrumentalisierung der Zeitzeugen ist die zunehmende „Sakralisierung“, die Regina Szepansky beobachtet und thematisiert. Das ursprüngliche Interesse an Erinnerungen aus der Zeit nationalsozialistischer Verfolgung sei in eine Art Verehrung umgeschlagen. Cord Pagenstecher unterstützt den Gedanken. Er sieht die Gefahr einer „Normierung“ der Jugendlichen durch vor allem überengagierte Lehrer. Sie erwarten eher Ehrfurcht als Respekt vor dem Zeitzeugen, was zur Folge hat, dass die Kinder „gute Mine“ machen und das Ende der Lehrveranstaltung ohne wirkliches Interesse abwarten. Von einem krassen Beispiel einer regelrechten „Dramaturgie des Zeitzeugen“ berichtet Cord. So sprach in Italien eine Zeitzeugin im Theater vor 500 Menschen. Unter dem mache sie es nicht mehr, da es zu anstrengend sei. Ein Argument, das verständlich und befremdlich zugleich ist. Um dem entgegenzutreten, setzt Lutz auf pädagogische Konzepte, die eine direkte Begegnung mit dem Zeitzeugen bzw. am authentischen Ort vorsehen.

Ist der Umgang mit Zeitzeugen also nur durch eine „Sakralisierung“ in der Pädagogik einerseits und eine „Professionalisierung“ durch die Wissenschaft andererseits geprägt? Sicher nicht. Cord Pagenstecher bekennt sich als Historiker natürlich zu seinem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse, gibt aber der Motivation, die er aus der direkten Begegnung mit Zeitzeugen zieht, einen grundlegenden Stellenwert.

Das Online-Archiv (www.zwangsarbeit-archiv.de), das Cord in diesem Zusammenhang vorstellt, soll Wissen vermitteln aber auch die Möglichkeit bieten, sich den Menschen und ihrer Erfahrungen – zwar nicht live, sondern per Video – zu nähern. Hier taucht natürlich die Frage des Verhältnisses zwischen Erfahrung und Wissen auf. Warum interviewen wir Zeitzeugen? Nur um Fakten zu erfahren? Spielt nicht die emotionale Ebene als tragfähige Grundlage von Wissen eine wichtigere Rolle?

In der Diskussion darüber werden noch einmal die beiden Aspekte der Pädagogik und der Wissenschaft beleuchtet.

Cord erzählt, wie über Zeitzeugenaussagen damals in den 1990er Jahren die Interviewer auf ein noch unerforschtes Lager gestoßen sind: das Arbeitserziehungslager Fehrbellin in Brandenburg. Daraufhin begann man mit der historischen Forschung, die einige Jahre später in einer Publikation veröffentlicht werden konnten. Und dies ist nur ein Beispiel, wie persönliche Erinnerung und historisches Faktenwissen zu einem Ergebnis führen, das letztendlich eine Forschungslücke füllt.

Diese Erfahrung widerspricht der Dualisierung von Buch gleich Wissen und Zeitzeuge gleich Emotion. Cord plädiert noch einmal für respektvollen aber auch kritischen Umgang mit Zeitzeugen. Die digitale Technik, so Cord, hat zwar bei der Vermittlung historischer Ereignisse noch viele Nachteile und Verluste aber man kann während der Betrachtung auf bestimmte Passagen zurückgehen oder in anderen Kontexten Begriffe und Fakten nachlesen, um Zusammenhänge besser verstehen zu können. Dies alles bietet eine unmittelbare Begegnung mit Zeitzeugen nicht.

Lutz hingegen setzt auf die Unmittelbarkeit im Zusammenhang mit Geschichtsvermittlung. Seine Erfahrungen brachten ihn zu der Überzeugung, dass nur durch die eigene Beschäftigung der Jugendlichen, das heißt, durch das Erarbeiten historischer Fakten und auch selbst Vortragen persönlicher Erinnerungen an authentischem Ort, eine sinnvolle Auseinandersetzung mit Geschichte und also auch mit der Gegenwart stattfinden kann.

Für beide Konzepte gibt es noch keine aussagekräftige Evaluation.

Aber eines wird an diesem Abend deutlich: Ob „Geschichte zum Anfassen“ oder „Geschichte zum Anklicken“ – es sind keine konkurrierenden Konzepte.

Auch der Zeitzeuge Harry Riestau findet das Online-Archiv großartig, wie er sagte.