30 Jahre Geschichtsarbeit „von unten“ – Reicht das jetzt?

Diskussionsveranstaltung am 27.02.2012

Bericht von Andreas Bräutigam

Diskutanten

Die Diskussionsveranstaltung fand am historischen Ort, im Kreuzberger Mehringhof statt, dort wo 1981 die Gründungsversammlung des Vereins stattfand.

Als Diskutanten eingeladen waren die Gründungsmitglieder der Berliner Geschichtswerkstatt Susanne zur Nieden (heute Lehrerin) und Thomas Lindenberger (heute Mitarbeiter im Zentrum für zeithistorische Forschung Potsdam) sowie der ein Jahr nach Gründung eingetretene Siegfried Heimann (heute in der Historischen Kommission der SPD tätig). Die Moderation hatte Jürgen Karwelat, langjähriges Mitglied des Vereins übernommen.

Die Veranstaltung begann mit einem gemeinsamen Rückblick auf die Gründungstage. Der Gründungsaufruf war im Stattbuch veröffentlicht – einem damals bekannten Branchenbuch und Wegweiser durch das alternative Berlin. Auf der Anwesenheitsliste der Gründungsveranstaltung am 25.5.1981 haben sich 25 Personen eingetragen. Dabei waren die Motive der Beteiligten recht unterschiedlich. Ursprüngliches Ziel der „Älteren Männer“ war es, ein „Bewegungsarchiv“ der 68er aus der Taufe zu heben.  Den jüngeren schwebte schon eine Geschichtswerkstatt vor. Zu klären war auch die Frage der Namensgebung für den neuen Verein. Namensvorschlag von Theo Pinkus – einem frühen Mentor der Geschichtswerkstatt – war „Franz-Mehring-Gesellschaft“ in Erinnerung an den marxistischen Historiker und Chronisten der Arbeiterbewegung. Aus Gründen der Gleichberechtigung – schließlich sollten ja auch Nichtsozialdemokraten und Frauen angesprochen werden – wurde dieser Vorschlag dann aber abgelehnt und man einigte sich auf „Berliner Geschichtswerkstatt“.

Treffpunkt blieb zunächst weiterhin ein abgetrennter Raum in einer der Fabriketagen des Mehringhofs. Jedoch wurde auch von der Geschichtswerkstatt erwartet, dass sie, wie damals basisdemokratisch üblich, an allen Versammlungen der Mehringhofgemeinschaft teilnimmt. Das führte schnell dazu, dass die Vereinsmitglieder mehr Arbeit in die Versammlungskultur des Mehringhofes als in die eigene Vereinsarbeit investieren mussten, was man auf die Dauer nicht durchzuhalten bereit war und sich einen neuen Vereinssitz in der Goltzstraße suchte.

Als erstes Vereinsprojekt wurde eine Ausstellung zur Nachkriegszeit für die Sommeruni konzipiert, die leider auch eine Ausstellungstafel zum Thema Banken und Kapitalismus mit antisemitischen Untertönen beinhaltete und daher zu kontroversen Diskussionen führte. Bei den Vereinsmitgliedern handelte es sich um eine äußerst heterogene Gruppe, die zu einem Gutteil antiakademisch orientiert war und sich als Laienhistoriker verstand. Man sah sich als Teil der Alternativbewegung und grenzte sich durch die Orientierung auf die mündlich erzählte Geschichte von Zeitzeugen („Oral history“) bewusst von der ausschließlich auf schriftlichen Quellen basierenden Arbeit der konservativ geprägten, akademischen Geschichtsforschung  und -gesellschaft ab. Doch gab die neue Methodik schnell Anlass zu akademischem Streit und Diskussionen.

Für den 50. Jahrestag der Machtübertragung an die Nationalsozialisten – den 30. Januar 1983 – war es Ziel der Geschichtswerkstatt,  eine Broschüre zur Geschichte Schönebergs zu erstellen. Bei der Recherche in alten Polizeiberichten der NS-Zeit stießen Mitglieder des Vereins auf den Namen einer Zeitzeugin, die laut Bericht an der Denunziation von Juden beteiligt war, was aber in ihren mündlich  der Geschichtswerkstatt erzählten Erinnerungen keine Rolle mehr spielte. Über diesen Widerspruch kam es zu zum Teil heftigen akademischen Kontroversen hinsichtlich der Bewertung des Wahrheitsgehaltes von Zeitzeugenberichten und über die Methodik der Oral History überhaupt.

Ein Highlight war für die Geschichtswerkstatt das von der Senatsverwaltung für Wirtschaft mit ca. 18.000 DM gesponserte bundesweite Geschichtsfest im Jahre 1984. Der Geschichtswerkstatt wurde für ca. 9 Monate die Stelle eines Geschäftsführers finanziert. Thomas Lindenberger übernahm den Job und organisierte das Geschichtsfest. Zahlreiche westdeutsche Gruppen kamen nach Berlin, Gezählt wurden am Ende über 700 Teilnehmer, was zu einer wahren Bewegungseuphorie führte und Ansporn zur weiteren Geschichtsarbeit bot.

Die Ernte konnte dann zur 750-Jahr-Feier Berlins im Jahre 1987 eingefahren werden. Der Geschichtswerkstatt, die zwar inhaltlich alles anders machen, ein Stück vom Finanzkuchen, der zur Begehung des Stadtjubiläums bereitstand, aber abbekommen wollte, wurden drei Projekte mit je 200.000 DM bewilligt: Der Wedding, die Rote Insel und der Lindenhof. Neben Buchpublikationen wurden auch Ausstellungen gemacht, von denen die Rote Insel im Rahmen des Kulturabkommens mit der DDR sogar in Ost-Berlin gezeigt wurde.

Parallel zur den diversen saisonalen Projektgruppen und -arbeiten konstituierte sich bereits 1984 die Dampfergruppe. Mit großer Stetigkeit bietet sie bis heute historische Dampferfahrten an und ist damit zu einem wesentlichen Stabilitätsfaktor für die Geschichtswerkstatt in Vergleich zu der immer wieder wechselnden Projektarbeit geworden, so die Einschätzung der Diskussionsteilnehmer.

Ein Dauerthema insbesondere auch für interne rege Diskussionen der Berliner Geschichtswerkstatt war in den 80er Jahren die Frage: Wo bleiben die Frauen? Sie wurde zunächst mit der Verankerung der Frauenfrage in § 2 der Satzung zu Zweck und Aufgaben des Vereins beantwortet. „Geschichte soll insbesondere auch als Geschichte von Geschlechtern begriffen und dargestellt werden“, heißt es dort.

Nach dem Fall der Mauer konnte die Frauenfrage dann auch nach Ost-Berlin getragen werden. Nach zahlreichen Kontakten und Gesprächen in Ostberlin im Frühjahr 1990 kam es dort schließlich zur Gründung einer eigenständigen Geschichtswerkstatt wegen zu starker westlicher Belehrung: Bei der Vorstellung einer Ostberliner Historikerin mit den Worten „Ich bin Historiker“ wurde sie von westlicher Seite korrigiert: „In ihrem Falle hieße das „Historikerin““.

Das große Projekt „August 1914“ mit einem Budget von 1,5 Millionen DM wurde im Jahr 1989 gestartet. Zwei Gruppen arbeiteten parallel an einem Buch und einer Ausstellung. Trotz der heftigen internen Diskussionen und der zeitlich gescheiterten Umsetzung der Ausstellung fand das Projekt eine große öffentliche Resonanz. Mit dem verstärkten Blick auf die Mentalitätsgeschichte zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde mit dem Projekt ein erster Schritt in Richtung Kulturgeschichte und damit zu Entpolitisierung und Ästhetisierung getan, so ein Podiumsteilnehmer.

 Auf die Ausgangsfrage der Veranstaltung zurückkommend, äußerte Thomas Lindenberger, das Konzept „Geschichtswerkstatt“ hätte Erfolg gehabt, sei aber nicht mehr zeitgemäß, da es nicht mehr innovativ wäre und in anderen Zusammenhängen wie etwa Heimat- oder Lokalmuseen (z.B. Eisenhüttenstadt) weitergeführt würde. Siegfried Heimann befand die Geschichtswerkstatt ebenfalls als Erfolgsgeschichte, hätte sie doch zur „Entstaubung“ der Heimatmuseen beigetragen. Er erinnerte außerdem an die gemeinsam mit dem Verein Aktives Museum 1983 durchgeführte symbolische Grabung auf dem Gelände des ehemaligen Gestapo-Hauptquartiers an der Prinz-Albrecht-Straße, die den Anstoß zur Errichtung der heutige Gedenkstätte Topographie des Terrors gegeben hätte. Erinnert wurde auch an die durch die Geschichtswerkstatt geleistete Informationsarbeit zur Aktion T4 sowie an die „Entdeckung“ des baulich nahezu vollständig erhaltenen ehemaligen Zwangsarbeiterlagers in Schönweide. 

Die Berliner Geschichtswerkstatt habe sich in einer besonderen historischen Situation gegründet und sei in der Sache so nicht wiederholbar, meinte abschließend Susanne zur Nieden.