von Lothar Evers, Bundesverband der NS-Verfolgten,
in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2001
NS-Zwangsarbeit. Eine Zwischenbilanz (Stand Ende Juni 2001)
Am 30. Mai 2001 hat der Deutsche Bundestag "ausreichende
Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen in den USA" festgestellt. Damit
werden erste Zahlungen aus der Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung
und Zukunft" möglich.
Hoffen wir, daß nach endlosen Jahren des Wartens im Sommer 2001 die ersten
Gelder bei den Überlebenden ankommen. Hoffen wir, daß die für die
Auszahlungen Verantwortlichen auf die Inszenierung von Dankbarkeitsgesten der
Empfänger vor laufender Kamera verzichten. Zu quälend, zu peinlich war der Weg
zur ersten Zahlung insbesondere in den letzten Monaten.
Jahrelang hatten die Überlebenden und ihre Unterstützer als "Kritische
Aktionäre" die Forderung nach Schadenersatz für die Opfer
herausgeschrien. Anläßlich runder Firmenjubiläen standen stets die gleichen
Aktivisten vor den festlich geschmückten Kongreßzentren. Ein Objekt für den
Werkschutz: ohne jede Aussicht auf Erfolg.
Die Mehrheit der Überlebenden lebt in den Ländern Mittel- und Osteuropas.
Viele wußten am Monatsersten nicht, ob sie die Miete bezahlen oder ausreichend
Lebensmittel einkaufen sollten. Keine Gefahr also für Deutsche Bank,
Mercedes-Benz oder Allianz. In den Chefetagen deutscher Weltfirmen hatte man die
Beteiligung der Unternehmen an NS-Verbrechen längst verdrängt. Selbst als am
4. März 1998 in Newark die erste Sammelklage gegen Ford Amerika und Ford Köln
eingereicht wurde, blieb man gelassen. Man stockte die Budgets für
Rechtsstreitigkeiten auf. Allein Degussa um 10 Mio. DM.
In den heute veröffentlichten Chroniken der Nachrichtenagenturen ist es
Bundeskanzler Schröder, dem wir verdanken, daß immerhin 56 Jahre nach dem Ende
des Nationalsozialismus gezahlt wird. Geben wir der ganzen Wahrheit die Ehre.
Genannter Bundeskanzler war im Sommer 1997 (noch) niedersächsischer
Ministerpräsident. Das Bundesland hält ein Drittel des Aktienbesitzes von VW.
Am 4. Juni 1998 verkündet Konzernchef Piëch auf der VW-Hauptversammlung einen
Rekordgewinn von 1,4 Mrd. DM nach Steuern für das Jahr 1997. Dem Vorstand sei
es zum dritten Mal in Folge gelungen, den Gewinn zu verdoppeln. Trotzdem
verweigert Ministerpräsident Schröder dem Fernsehmagazin "Monitor"
jede Stellungnahme zu Fragen nach der überfälligen Entschädigung der
NS-Zwangsarbeiter bei VW.
Dann wird in den USA das Class Action-Verfahren gegen VW eröffnet. Da steht
Schröder kurz vor einem Besuch bei Bill Clinton zwecks Nachweises
außenpolitischer Fähigkeiten. Schröder muß eingesehen haben, daß Fragen
nach der NS-Zwangsarbeit bei VW so gar nicht zum Image eines Kanzler in spe
passen würden. So und nur so kommt es zwischen Spätsommer und Frühherbst 1998
zu ersten Rissen in einer 53 Jahre durchgehaltenen Verweigerungshaltung der
deutschen Wirtschaft, über Schadensersatzansprüche der Überlebenden auch nur
zu reden. VW verkündet die Einrichtung eines firmeneigenen Fonds. Und Schröder
verspricht politische Intervention zum Thema, sollte er die Wahl im Oktober
gewinnen.
Rechtsschutz
"Die neue Bundesregierung wird [...] unter Beteiligung der deutschen
Industrie eine Bundesstiftung ‚Entschädigung für NS-Zwangsarbeit‘ auf den
Weg bringen", heißt es denn auch erfreulich präzise einige Monate später
in der rot-grünen Regierungsvereinbarung. Jeder, der das Land, seine Wirtschaft
und deren Standortdebatten kennt, ahnt: In der Beteiligung der Wirtschaft liegt
die eigentliche Herausforderung des Projektes.
Eine Herausforderung, auf deren politische Strukturierung die neue
Bundesregierung verzichtet. Statt dessen überläßt Rot-Grün die Gestaltung
des Projektes ausgerechnet der Wirtschaft selbst, genauer gesagt einer
Selbsthilfegruppe der 16 in den USA verklagten Unternehmen. Die nennen sich
"Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft‚ Erinnerung, Verantwortung
und Zukunft". Der hochtrabende Titel verbirgt knallharte Interessenpolitik.
Die Klagen in den Vereinigten Staaten sollen vom Tisch, so kostengünstig und
schnell wie möglich. Die Zahlung an die Überlebenden ist dabei lediglich
Mittel zum Zweck. Späte Zeichen von Verantwortung oder gar Reue sucht man
vergebens.
Herzlich bittet man um Verständnis, daß ja niemand gern zweimal für
dieselbe Sache zahlt. Da zahlt man besser gar nicht, bis weitere 100000
NS-Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nicht mehr leben. Verkündet werden
derlei Plattheiten vom ersten und lange Zeit einzigen Angestellten der
Stiftungsinitiative. Pressesprecher Gibowski scheint überzeugt, daß die von
ihm repräsentierten Firmenjuristen angesichts fehlender Rechtssicherheit
mindestens so leiden wie die in ihren Firmen beschäftigten Sklaven vor 50
Jahren. Zur Unterstützung der verhandelnden Unternehmen kreiert das
Bundeskanzleramt das Amt eines "Beauftragten des Bundeskanzlers für die
Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft". Damit ist aus dem Projekt
"Entschädigung für NS-Zwangsarbeit" das Projekt "Rechtsschutz
für deutsche Firmen" geworden.
Daß sich der dabei erzielte Kompromiß trotzdem sehen lassen kann, verdanken
die Überlebenden nicht der deutschen Wirtschaft, nicht dem deutschen
Bundeskanzler, sondern einzig und allein der Kampfkraft eines historischen
Bündnisses. Das besteht aus Nichtregierungsorganisationen in Europa und den
USA, amerikanischen Rechtsanwälten, den zu den Verhandlungen zugelassenen
Staaten und einigen engagierten Bundestagsabgeordneten. Es wird unterstützt von
ca. 20 Journalist/innen im In- und Ausland und erstreitet – wenigstens auf dem
Papier – 10 Mrd. DM für die Überlebenden. Im Vergleich zu den 1,5 Mrd., mit
denen sich die NS-Opfer in den Staaten Mittel- und Osteuropas im Rahmen der
deutschen Wiedervereinigung bescheiden mußten, eine respektable Summe.
Der 17. Juli 2000, Tag der Vertragsunterzeichnung einer abschließenden
Erklärung der Verhandlungen, markiert gleichzeitig den größten Triumph dieses
Bündnisses und den Termin seines Zerfalls in nicht mehr zu vereinheitlichende
Einzelinteressen. Während die Überlebenden über ein Jahr auf die erste
Zahlung warten müssen, kümmern sich die amerikanischen Anwaltskanzleien um die
Aufteilung der ihnen zugesagten Honorare von 125 Mio. DM. Aus einigen NGOs und
Staaten am Verhandlungstisch werden Partnerorganisationen der deutschen
Stiftung. Das schafft ökonomische Abhängigkeiten. Schließlich gelingt es den
Spitzen des rot-grünen Projekts, den Kandidaten der Überlebenden für einen
Sitz im Vorstand der Stiftung so zu bedrohen, daß er zur Wahl gar nicht erst
antritt. Die Opfer sind seitdem ohne eigenen Vertreter in der Exekutive des
Stiftungsprojektes.
Nach dieser Zersplitterung und Entmachtung können die Gründer der
Wirtschaftsstiftungsinitiative die vertraglich vereinbarte Hinterlegung von 5
Mrd. DM in der Bundesstiftung verweigern. Das Parlament hat seine Forderung vom
Sommer 2000 – "Der Deutsche Bundestag fordert die Unternehmen der
deutschen Wirtschaft auf sicherzustellen, dass der von der Stiftungsinitiative
zugesagte Anteil in Höhe von 5 Mrd. Deutsche Mark ebenfalls umgehend gezahlt
wird" – jedenfalls bis heute nicht durchsetzen können. Zwei Wochen,
nachdem der Bundestag ausreichende Rechtssicherheit festgestellt hat, ist der
Betrag noch nicht bei der Bundesstiftung eingegangen. Kein Vorstandsmitglied der
Bundesstiftung verlangt einen rechtsverbindlichen Vertrag, als die 16 Gründer
auf Druck einer amerikanischen Richterin per Presseerklärung zusagen, den
vollen Stiftungsanteil von 5_Mrd. DM zu garantieren. Den Opfern entgehen
Zinseinnahmen in dreistelliger Millionenhöhe.
Nein, nicht die rot-grüne Bundesregierung, nicht der Deutsche Bundestag hat
die Wirtschaft zum Einlenken gezwungen. Wäre es nach den 16
Gründungsunternehmen der Stiftungsinitiative gegangen, so warteten die
Überlebenden noch heute. Ohne jede Hoffnung. Unwidersprochen durch den
Kanzlerbeauftragten Otto Graf Lambsdorff hatten Unternehmen beantragt, die für
den Bereich "Banken" zuständige Richterin Shirley Wohl Kram für
befangen zu erklären und entpflichten zu lassen. Nur der Weitsicht der
amerikanischen Berufungsrichter ist es zu verdanken, daß dieser
Befangenheitsantrag in der Versenkung verschwand. Vom Bundeskanzler, seinem
Wirtschaftsbeauftragten oder dem Deutschen Bundestag hat man dazu kein Wort
vernommen.
Auch nach dem Urteil des amerikanische Berufungsgerichts war die Spitze der
Stiftungsinitiative zunächst wild entschlossen, den Kampf gegen die
Überlebenden fortzusetzen. Nachdenklich wurde man erst, als sich eine
Opposition in der Stiftungsinitiative selbst bildete. Binnen drei Tagen gelang
es dem Kölner Unternehmer Wolfgang Müller und einigen Freiwilligen des
Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte, 60
Mitgliedsunternehmen der Stiftungsinitiative zur Unterschrift unter den Appell
"Sofort auszahlen" zu bewegen.
Stiftungskritiker
Immer mehr Mitglieder der Initiative bestehen inzwischen auf Transparenz und
Demokratie. Sie verlangen Einblick in deren Buchhaltung. Es verdichtet sich der
Verdacht, daß die Gründungsunternehmen selbst nur minimale Einzahlungen auf
die Konten der Stiftungsinitiative leisteten. Die durch die Beiträge der
gutwilligen und früh einzahlenden Mitglieder erzielten Zinserträge wollen die
16 Gründer selber zur Reduzierung ihrer Ausfallgarantie nutzen, statt sie an
die Opfer weiterzugeben.
Keines der kritischen Mitglieder der Stiftungsinitiative ist an der Wahl der
Kuratoren für die Bundesstiftung beteiligt worden. Ein eindeutiger
Gesetzesbruch, der von den zuständigen Ministerien der Bundesregierung gedeckt
wird. Die akzeptieren als "vier von den in der Stiftungsinitiative der
deutschen Wirtschaft zusammengeschlossenen Unternehmen zu benennende
Mitglieder" nie gewählte Kuratoren von eigenen Gnaden und auch schon mal
eine in der Anwesenheitsliste als Begleitperson geführte Person. Hauptsache
deren Nähe zu den Gründungsfirmen steht außer Frage. Offensichtlich hält man
gerade das gute Dutzend Unternehmen, die sich am längsten und beharrlichsten
gegen erste Zahlungen an die Überlebenden gesträubt haben, für besonders
geeignet, über die Organsation der Auszahlungen und die Projekte des
Zukunftsfonds zu entscheiden.
Das Beste daraus machen
Zwei bis drei Jahre werden die Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung
und Zukunft" und deren Partnerorganisationen an den Auszahlungen arbeiten.
Man stelle sich vor, für Leistungen z.B. des Mutterschaftsgeldes wäre statt
eines Betrages pro Kind eine fixe jährliche Summe im Haushalt festgeschrieben.
Nach der Geburt erhielte die Mutter zunächst einen Abschlag in Höhe von 30 bis
50% der gesetzlichen Höchstsumme. Der Restbetrag würde im Mai des Folgejahres
nachgezahlt, schließlich müsse man erst feststellen, unter wieviel
neugeborenen Kindern die Gelder aufzuteilen seien. Ein Aufschrei der Empörung
wäre die Folge dieser nicht sachgerechten und politisch deshalb nicht
durchsetzbaren Lösung.
Dieser Aufschrei bleibt aus, wenn die Antragsteller Opfer
nationalsozialistischer Verfolgung sind. Den Überlebenden läuft im Gegensatz
zu jungen Müttern die Lebenszeit davon, und sie werden auf den zweiten Abschlag
nicht einige Monate, sondern ein bis zwei Jahre warten müssen.
So werden erneut zehntausende Opfer sterben, ohne die vollständige
Entschädigungssumme erhalten zu haben. Weil man der Wirtschaft die Politik
überließ und dabei die Überlebenden zu Objekten wurden.
Die zahlreichen Expertenkommissionen neben dem Parlament scheinen dessen gar
nicht so heimliche Entmachtung einzuleiten. Trotzdem, stellen wir uns nur eine
Minute vor: Statt eines Beauftragten für die Stiftungsinitiative wäre eine
Expertenkommission "Schadenersatz für NS-Zwangsarbeit" eingesetzt
worden. Wir hätten miteinander ins Gespräch kommen müssen. Die Opfer selbst
wären deutlicher zu Wort gekommen. Sicher hätten wir ein einstufiges
Auszahlverfahren mit festen Beträgen pro Person vereinbart. Aber wie hätten
wir die Beteiligung der deutschen Wirtschaft organisiert? Und hätte die
wenigstens auf dem Papier 5 Mrd. DM betragen?
Jetzt gilt es aus dem zum Gesetz gewordenen Verhandlungsergebnis das Beste zu
machen. Zunächst: die Begleitung der Überlebenden durch die bürokratische
Antragsprozedur zu organisieren. § 18 Absatz 3 des Stiftungsgesetzes lautet:
"Antragsteller nach diesem Gesetz können von Unternehmen in Deutschland,
bei denen oder deren Rechtsvorgängern sie Zwangsarbeit geleistet haben,
Auskunft verlangen, soweit dies zur Feststellung ihrer Leistungsberechtigung
erforderlich ist." Dieser Rechtsanspruch will durchgesetzt und organisiert
sein. Das können die Opfer nicht alleine leisten. Hoffen wir auf jene
Minderheit in diesem Land, die auch in den zurückliegenden fast vier Jahren an
ihrer Seite gestanden hat.
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